Schnee-flöckchens Reise
von Jacqueline Lorenz

Erschienen in Gazette Wilmersdorf Dezember 2025
Der Spätherbst war längst vorbei und in den Wattewölkchen, die übers kalte Land zogen, machte sich Wasserdampf breit. Ein besonders vorwitziger schillernder Wassertropfen in der Wolke setzte sich geradewegs auf ein Staubkorn, um besser sehen zu können, was da unten auf der Erde vor sich ging. Ach, wie gerne wäre er mittendrin dabei gewesen! Er sah Tannenbäume, in denen Eichhörnchen fröhlich umhersprangen, Kinder, die Ball spielten, und ältere Menschen, die sich die Mütze tiefer ins Gesicht zogen, weil ihnen kalt war. Ja, auch unser Wassertröpfchen fand es ganz schön eisig hier oben. Irgendwie schien es sich mit zunehmender Kälte zu verändern, wie es verwundert feststellte: Symmetrisch verzweigte Formen in sechs Ecken wuchsen aus ihm heraus, doch es fühlte sich dennoch erstaunlich leicht. Und eh es sich versah, war aus unserem Tröpfchen ein Eiskristall geworden, das von nun an „Schneeflöckchen“ hieß. Um es herum saßen viele ähnliche Eiskristalle, die, genau betrachtet, ganz unterschiedlich gestaltet, doch eigentlich alle wunderschön waren. Unser Schneeflöckchen aber hatte nur Augen für die Erde unter sich und wünschte sich nichts sehnlicher, als dort mittendrin Spaß zu haben. Und denkt Euch: Petrus hörte das. Schon wenig später ließ er es schneien. Hei, war das ein Spaß! Mit all seinen Eiskristallgefährten schwebte unser Schneeflöckchen dicht an dicht der Erde entgegen. Und wie jauchzend wurde es da von den Kindern begrüßt: „Es schneit! Endlich! Lasst uns einen Schneemann bauen!“ Es landete mit ein paar Freunden geradewegs auf dem buschigen Schwanz eines Eichhörnchenmannes, der sich unter den nasskalten Flockenlast erst einmal kräftig schüttelte. Hei, flog das Flöckchen weiter und landete nun direkt neben einem zarten Tannenbäumchen auf dem Boden. Viele Flocken flogen auf das Bäumchen, das dankbar durch die Nadeln wisperte: „Oh wie schön, jetzt wird mir endlich etwas wärmer, ich hab´ schon mächtig gefroren bei diesem Frost.“ Schnell hatte sich eine dichte Schneedecke auf ihm gebildet, wärmend und schützend zugleich. Unser Schneeflöckchen kam sich auf dem Boden ein wenig unnütz vor, viel lieber wäre es mit dem Eichhörnchen von Baum zu Baum gehüpft oder hätte von einer Kindermütze aus das lustige Ballspiel in erster Reihe beobachtet. Aber man kann eben nicht alles haben. Und so kuschelte es sich abwartend auf ein großes Eichenblatt vom vergangenen Herbst.
– Fast hätten es da trippelnde Kinderfüße erwischt, welche über die inzwischen dicht beschneite Wiese vorm Haus tobten. In den Händen hatte sie allerlei Dinge: Einen großen Topf, ein orangenes längliches Etwas, schwarze Steine einen zerzausten Besen. Das alles stellten sie erst einmal an die Hauswand. Unter lautem Kreischen und Lachen begannen sie nun mit ihren kleinen Händen Schneekugeln zu formen, die sie über den Schnee wälzten. Dabei kamen sie unserem Flöckchen bedrohlich nahe.- Und ehe es noch nachdenken konnte, wurde es kopfüber und dicht gedrängt mit vielen anderen Flockengefährten über die Wiese gerollt, dass es gar nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Endlich hörte das Hin- und Hergerolle auf, und es fand sich außen auf einer großen weißen Schneekugel sitzend wieder. War das spannend! Dieser Aussichtspunkt war gar nicht so schlecht, um das bunte Treiben aus blinzelnden Kristalläuglein genauestens verfolgen zu können: Ein kleines Mädchen mit roter Wollmütze hatte eine weitere Schneekugel fast fertig gerollt, frierend zeigten sich grüne Grashalme, die kurz zuvor die Schneedecke gewärmt hatte. Schließlich war auch noch eine dritte, etwas kleinere Schneekugel fertig. Ein großer dicker Mann setzte die Schneekugeln nun so übereinander, dass sie wie ein Schneeturm aus der verschneiten Wiese herauswuchsen. Unser Schneeflöckchen hatte Glück gehabt, von der Kugel über sich nicht zerdrückt worden zu sein! Andere Gefährten hatten dieses Glück nicht gehabt. That´s Life!
Und so konnte es bestens beobachten, was weiter geschah. Ein Junge mit lauter Stimme platzierte vor sich hin plappernd die schwarzen Steine mittig übereinander auf der mittleren Kugel, das orange längliche Etwas – der Junge nannte es „Karotte“ – bekam seinen Platz oben und ragte geradeaus in die kalte Winterluft. Kleine Steinchen wurden wie Augen daneben gesteckt und ganz obenauf kam umgedreht der Topf, dass man glaubte, ein Hut säße auf dem Turm. Schneeflöckchen hörte etwas von „Schneemann“ und „besonders schön“ und wurde mächtig stolz, Teil dieses besonderen Ganzen zu sein. Als dann auch noch der Besen aufrecht an den Schneemann gelehnt wurde, war der allgemeine Jubel groß: Alle Kinder fassten sich an den Händen und tanzten um die Schneefigur herum, und die Erwachsenen erschienen mit heiß dampfenden Tassen in den Händen, kamen damit dem neugeborenen Schneemann aber zum Glück nicht zu nahe. Das war ein Treiben so ganz nach dem Geschmack unseres Schneeflöckchens!
Langsam wurde es dunkel, nach und nach gingen Kinder und Erwachsene ins Haus zurück. Es wurde ruhig auf der Wiese vorm Haus. Nur der Schneemann hielt Wache in eisiger Winternacht. Auf seinem Mantel glitzernden stolz die Eiskristalle. Eines funkelte besonders hell – unser Schneeflöckchen, das seine Reise zur Erde so ganz und gar nicht bereut hatte und gespannt war, was noch kommen würde.
Und wenn es nicht geschmolzen ist, funkelt es noch heute...
Allen Lesern und Kunden ein gemütliches und stressfreies Weihnachstfest sowie ein gesundes und erfolgreiches Jahr 2026
wünscht von Herzen
Ihr Gazette-Team









