Gazette Verbrauchermagazin

„Eisenacher Hundert – Gesichter einer Straße“

Fotoausstellung in der Volkshochschule

Fotograf, Filmmacher und Buchautor John Kolya Reichart.
Fotograf, Filmmacher und Buchautor John Kolya Reichart.
Erschienen in Gazette Schöneberg & Friedenau März 2023
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Noch bis zum 31. März 2023 sind auf der Galerie im 1. Obergeschoss der VHS am Barbarossaplatz 5 in Schöneberg, Mo.-Fr. von 8.30 bis 20.30 Uhr und Sa. und So. von 9.30 bis 17 Uhr, die anlässlich des im vergangenen Jahre veröffentlichten Bildbandes von John Kolya Reichart erstellten Portraits von 100 in der rund zwei Kilometer langen Eisenacher Straße wohnenden Menschen zu besuchen. Nach den Lebensjahren der Portraitierten von 1 bis 100 geordnet, erzählen die Schwarzweiß-Fotos zusammen mit den dazu verfassten persönlichen Untertexten aus langen oder noch kurzen Menschenleben. Vervollkommnet wird das demografisch-urbane Fotobuch-Projekt aktuell durch den dazu gerade fertiggestellten Film des Filmemachers und Fotografen, der seit rund drei Jahren mit seiner Familie ebenfalls zu den Bewohnern der Eisenacher Straße zählt. Anlässlich der Vernissage am 21. Januar wurde der Film in voller 45-minütiger Länge gezeigt und beeindruckte die Anwesenden – darunter viele der Fotografierten – sichtlich. Menschen zusammenzubringen, dies ist John Kolya Reichart mit seiner Ausstellung gelungen.

Bist du Eisenacher*in???

hatte J.K. Reichart ursprünglich im Vorfeld seiner Buchproduktion auf einem Aushang in der Eisenacher Straße gefragt und angefügt: „Egal wie alt du bist, melde dich bei mir!“ Zusätzlich hatten er und seine Familie in einer „Nacht- und Nebelaktion“ mit Plakaten diesen Inhalts die Gehwege der Eisenacher Straße zugepflastert. Das Ergebnis war für ihn erstaunlich und prompt, wie Fotograf Reichart anlässlich der VHS-Vernissage in Schöneberg berichtete: „Nur drei Wochen später gab es schon über 30 Rückmeldungen, – meist von Frauen im Alter zwischen 30 und 65 Jahren.“ Um jedes Lebensjahr auf seinen Fotos vertreten zu können, wandte sich der Fotograf in dieser coronaschweren Zeit auch an Institutionen wie Bäcker und Friseure in der Nachbarschaft, die von Menschen unterschiedlichen Alters gut frequentiert sind. Von jedem der am Projekt Teilnehmenden schoss er zwischen Ende 21 und März 22 mit analoger 35-mm-Kleinbildkamera in immer gleichem Stil mehrere Fotos. Die von ihm ausgewählten Bilder legte er ihnen anschließend vor. Die Reaktionen waren unterschiedlich, von „Das soll ich sein?“ bis zum totalen Rückzug der Portraitierten aus dem Projekt, mit den Worten begründet: „Weil meine Hunde nicht gut getroffen sind.“ – Ein Ausnahmefall. Die meisten fotografierten Menschen jedoch waren erfreut, erstaunt, viele ergriffen.

Der Fotoauswahl folgten persönliche Gespräche mit den Buchkandidaten als Grundlage für die Bilduntertexte. Die Interviews verliefen, oft im Auto des Fotografen, von kurz und knapp bis zeitintensiv und ausführlich. Vertrauen musste zuvor aufgebaut, ein zu umfangreicher Redeschwall manchmal geschickt eingegrenzt werden. J.K. Reichart half dabei sicherlich seine empathisch-offene Art, mit der er Menschen im Allgemeinen entgegentritt. Das Ergebnis kann sich auf den Fotos sehen und mit Originalton und -stimme der Befragten im Film hören lassen. Für jedes Lebensjahr von 1 bis 100 steht auch hier eine Person und trägt zu einem bunten Querschnitt bei, wie er lebendiger und abwechslungsreicher in einem Schöneberger Kiez kaum sein könnte.

Eisenacher*innen – eine Straße zeigt Gesicht

Die VHS am Barbarossaplatz und Scheitelpunkt der Eisenacher Straße ist der genau richtige Ort für diese Ausstellung. „Hier an diesem Treffpunkt für alle, an dem so vielfältiges Wissen und Kurse geboten werden, ist es bildungspolitisch wichtig, auch den künstlerisch-ästhetischen Aspekt nicht außer acht zu lassen“, erklärt dazu Bezirksstadtrat Tobias Dollase. Kunst und Kultur dürfe nicht nur in Berlin-Mitte eine Rolle spielen.

Der Ausstellungsbesucher schaut nun diesen Menschen ins Gesicht, die Fotograf Reichart Modell gestanden und ihnen ihre Lebenswege, Wünsche, Sehnsüchte, aber auch Ängste erzählt haben. Erstaunlich nah konnte er vielen von ihnen dabei kommen, vertrauensvoll teilten sich die Portraitierten ihm mit. Die daraus verfassten Bildunterschriften lassen den Betrachter in stillen Dialog mit den Abgebildeten treten. Da ist die 100-Jährige, die sagt: „Eigentlich gefällt`s mir überall, nur zuhause will ich gerne sein.“ Oder die 18-Jährige, die vor Lust auf Leben fast explodiert. Und da sind Masseur Lars in Frauenkleidern und Elektroniker Micki, die eigentlich in keine Schublade passen. Frech, philosophisch oder abgeklärt: Altersgruppen, die noch alles vor sich, viel oder weniger erreicht haben, sich dem Lebensende annähern lässt Kolya Reichart gebührend zu Wort kommen und hat es sich mit diesem so menschlichen Querschnitt seiner Straße nicht leicht gemacht.

Der Betrachter muss hinschauen, will mehr wissen, mehr erfahren. – Neugier macht Spaß. Hier nun setzt der Film an, der die Betrachteten näher rückt und zum (wenn auch entfernten) Bekannten werden lässt, durch den man sich ein kleines Stück weniger einsam fühlt. Buch – Ausstellung – Film: Eine Einheit, die es nicht zu trennen gilt, will man ihren vollen Erfolg auskosten.

Macher und Nachbar

„Ich habe mir gesagt, es muss in dieser ellenlangen Eisenacher Straße doch möglich sein, 100 Menschen im Alter zwischen 1 und 100 Jahren zu finden“, beschreibt John Kolya Reichart die Grundidee seines Fotoprojektes.

Schon als kleiner kölscher Jung entdeckte er seine Liebe zur Analogfotografie, nachdem er im Schrank die alte Minolta seiner Eltern gefunden hatte. Bereits erfolgreicher Fotograf, studierte er Regie an der Filmhochschule Ludwigsburg und gründete danach in Berlin mit Freunden eine Filmproduktionsfirma. Sein fotografischer Schwerpunkt sind bis heute Portraits und Dokumentationen.

Schule machen kann dieses besondere Foto-Projekt durchaus auch für andere Kieze und bezirkstypische Straßen Berlins. Die aktuelle Ausstellung soll zukünftig als Wanderausstellung gezeigt werden, wobei der dazugehörige Film und der Bildband wichtige ergänzende Elemente sind. – J.K. Reichart ist indessen bereits mit der Kamera für sein nächstes Fotoprojekt unterwegs, das 18-Jährige in ganz Deutschland als Zielgruppe hat. – Man darf gespannt sein.

Das 216 Seiten umfassende Fotobuch „Eisenacher Hundert – Gesichter einer Straße“ ISBN: 978-3-00-072326-1 ist für 38 Euro erhältlich in gängigen Buchgeschäften.

Weitere Informationen unter www.eisenacher100.de

Jacqueline Lorenz

Titelbild

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