Gazette Verbrauchermagazin

60 Jahre „neue“ Gedächtnis-Kirche

Mahnmal und Meisterwerk

„Blau ist der Friede“ – das spiegelt sich im Innern der Gedächtnis-Kirche wider.
„Blau ist der Friede“ – das spiegelt sich im Innern der Gedächtnis-Kirche wider.
Erschienen in Gazette Charlottenburg Dezember 2021
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Sie ist für die Berliner architektonisches Meisterwerk und geschichtliches Mahnmal zugleich: Am 17. Dezember 1961 wurde die von dem Architekten Prof. Dr. Egon Eiermann entworfene neue Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche am 3. Advent von Bischof Dr. Otto Dibelius eingeweiht. Heute – 60 Jahre später – wird die „Citykirche“ noch immer als mitten in der Stadt gelegener Ort der Stille, des Gebetes und des Gedenkens ehrfürchtig von Einheimischen und Touristen besucht.

Altes und Neues als spannende Einheit

Vor 78 Jahren war in der Nacht vom 22. auf den 23. November 1943 eine zentrale Landmarke zerstört worden. Die markante, in neoromanischem Stil errichtete Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin-Charlottenburg fiel damals einem Luftangriff zum Opfer. Einzig die Ruine des 1895 eingeweihten Gotteshauses ragte mahnend in den Himmel über Berlin, bis am 9. Mai 1959 der Grundstein für die „neue“ Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche gelegt wurde. Kirche, Turm, Kapelle und Foyer nahmen nun die alte Turmruine in ihre Mitte und schufen – Altes und Neues bewahrend – eine spannungsvolle Einheit.

Planung und Realisierung der neuen Kirchenbauten waren ein langwieriger Arbeitsprozess, den heftige Diskussionen und der Streit zwischen Abriss und Rekonstruktion begleiteten. 1953 gab es sogar Briefmarken mit der abgebildeten Ruine und dem Schriftzug „Für den Wiederaufbau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche“. Diese anfänglichen Pläne stoppte der Senat 1953 und rief einen Wettbewerb für einen Neubau aus, den 1957 Architekt Egon Eiermann mit seinem Entwurf gewann. Hatte er zuerst den kompletten Abriss der Kriegs-Ruine geplant, sah er nun einen Sturm der Entrüstung auf sich zukommen: In Umfragen sprachen sich die Berliner vehement gegen den Abriss der Kirchenruine an dem zentralen Ort im damaligen Westteil Berlins aus. Doch der Architekt stellte sich der Herausforderung und hielt mit seinem Kompromissvorschlag mit dem von Neubauten umrahmten zerbombten Mahnmal den Widerstand in Grenzen. Die Kirche sei sein Lebenswerk geworden, erklärte er später. – Ein Lebenswerk, an dem auch der spätere Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen mitwirkte: als Jura-Student jobbte er in den Semesterferien als Bauhelfer und montierte mit am Stahlskelett des Kirchenneubaus.

Jawort mit Lippenstift und Puderdose

Der typische Berliner Humor fand dann auch schnell die passenden Beinamen für das neu erstandene Kirchenensemble: Die Ruine des Hauptturmes wurde zum „hohlen Zahn“, blieb als Mahnmal erhalten und wurde von den modernen Elementen „Lippenstift und Puderdose“ eingerahmt. Die Ruine überragt den 53,3 Meter hohen Glockenturm. Neben dem neuen Turm befindet sich die rechteckige Gemeindekapelle, das achteckige Kirchenschiff kann über das rechteckige Foyer betreten werden. Erst über die Jahre aber habe die Gedächtnis-Kirche Bedeutung als Denkmal und Mahnmal gegen den Krieg und für die Versöhnung bekommen, wie Zeitzeugen berichten. Wer auf sich hielt, heiratete in dem geschichtsträchtigen Gotteshaus, und nicht selten wurden die Kinder dann dort später getauft und konfirmiert.

Blau ist der Friede

Wer bereits tags vom Äußeren des Kirchenbaus und den Fassaden mit ihren über 20.000 Beton-Glas-Waben fasziniert ist, der dürfte am Abend und beim Betreten des Kirchenschiffs noch eine Steigerung erfahren: Ganz bewusst setzte Architekt Eiermann beim Bau von Turm und Kirchenschiff auf den Schein der blauen Fenster als Farbe des Versöhnungsgedanken und erklärte dazu: „Blau ist der Friede.“ Eiermann gewann den französischen Glasmaler und Künstler Gabriel Loire aus Chartres für die Gestaltung der farbigen Glaswände, der zerschlagenes Glas zu quadratischen Mosaik-Flächen zusammensetzte. Um das Glas farblich besonders strahlen zu lassen, ist zwischen der äußeren und der inneren Glasfläche ein Hohlraum belassen, in dem hellstrahlende LED-Leuchten erstrahlen. Sie sorgen so für die besondere Atmosphäre bläulichen Dämmerlichts im Kircheninnern. Für den Boden wählte Eiermann runde Platten, Betonsteine im Wechsel mit kleineren roten und schwarzen Keramikplatten.

Christus und Madonna statt Kreuz

Den harmonischen Gesamteindruck perfektionierte Eiermann, der auch als Möbeldesigner erfolgreich war, im Innenraum. Hatte er ursprünglich nur ein schlichtes Kreuz über dem Altar vorgesehen, ließ sich dieser Plan nicht umsetzen. Stattdessen schwebt darüber der fast fünf Meter große Auferstehungschristus, den Landesbischof Otto Dibelius der Kirche schenkte. Ebenfalls von ihm ist das Märtyrerkreuz. Es erinnert an die evangelischen Märtyrer in den dunklen Zeiten des Nationalsozialismus. 1983 fand ein weiteres Gedächtnis-Relikt den Weg in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche: Der damalige Bundespräsident Karl Carstens übergab dem Gotteshaus die Originalzeichnung der „Madonna von Stalingrad“. Der evangelische Pfarrer, Truppenarzt und Künstler Kurt Reuber hatte sie im Jahr 1942 – eingeschlossen im Kessel von Stalingrad – gezeichnet. Im Bunker beteten vor ihr Weihnachten die Soldaten fern der Heimat. Die Zeichnung übergab Reuber einem verletzten Soldaten, der als einer der letzten nach Deutschland ausgeflogen werden konnte. Er selbst verstarb 1944 in sowjetischer Gefangenschaft. Neben der Zeichnung steht eine Madonna aus Wolgograd als Zeichen der Versöhnung.

Kleinod mit Sanierungsbedarf

So hat meistbesuchtes Gotteshaus Berlins, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, heute nicht nur als Denkmal nationaler Erinnerung einen hohen Stellenwert, auch kunstgeschichtlich ist sie von herausragender Bedeutung. Sie steht für gute und schlechte Tage deutscher Geschichte, steht für Frieden und Versöhnung und für Wiederaufbau. Dabei mahnt sie unerlässlich gegen Krieg und Terror – besonders eindringlich seit dem Terroranschlag des 19. Dezember 2016.

Dennoch nagt der Zahn der Zeit auch an dieser Kirche, umfangreiche Sanierungen stehen an: Die Armierungsdrähte in den Betonwaben korrodieren, dehnen sich aus, es kommt zu Abplatzungen. Der Beton ist rissig. Glaselemente müssen ausgebaut, von Verkrustungen befreit werden, benötigen zeit- und kostenintensive Arbeitsgänge. Im Glockenturm sind etwa 5.000 Fenster betroffen. In den nächsten Jahren stehen etwa 36 Millionen Sanierungskosten an, Finanzierungsfragen sind noch offen. Da reichen die Eigenmittel der Kirche nicht aus, Fördermittel vom Senat sind unerlässlich und Spenden dringend notwendig. Die coronabedingt niedrigen Touristenzahlen haben sich auch bei den Spenden negativ bemerkbar gemacht. Nun hofft man auf Unterstützung durch die Landeskirche, setzt auf Veranstaltungseinnahmen, die in die Sanierungskasse fließen sollen, und wünscht sich wieder steigende Touristenzahlen.

Am 10. Dezember 2021 um 19 Uhr gibt es in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche einen Vortrag über den Architekten Egon Eiermann, am 19. Dezember findet um 10 Uhr ein Festgottesdienst zum 60. Kirchweihjubiläum statt. Außerdem stehen ein Jubiläumskonzert des RIAS Kammerchors Berlin, Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium, eine Fotoausstellung sowie anlässlich des fünften Jahrestags des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz eine Andacht mit dem evangelischen Bischof Christian Stäblein auf dem Programm.

Weitere Informationen und Anmeldung unter www.gedaechtniskirche-berlin.de

Jacqueline Lorenz

Titelbild

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