Gazette Verbrauchermagazin

Mobilitätswende im Bezirk – wie ist der Stand der Umsetzung?

Die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Charlottenburg-Wilmersdorf diskutiert

Erschienen in Gazette Charlottenburg und Wilmersdorf Mai 2021

Wie kann auf die sich wandelnde Mobilität reagiert werden? Wie ist der aktuelle Stand und was muss sich verbessern? In den folgenden Beiträgen nehmen die Fraktionen der BVV zu dem Thema Stellung.

SPD-Fraktion

„Mobilitätswende“ bedeutet: Vorrang für den Umweltverbund (zu Fuß, Rad und Schiene) mit dem Ziel einer klimaneutralen Mobilität. Das Mobilitätsgesetz, an dem die SPD mitgewirkt hat, legt Qualitätsstandards für Fuß- und Radwege fest. Wir haben uns mehr davon erhofft als die Grünen die Verantwortung für die Verkehrsverwaltungen im Bezirk und im Senat, mit einer verbesserten Personalausstattung übernommen haben, um die Mobilitätswende umzusetzen.

Die Bilanz der Legislaturperiode ist enttäuschend: Es gibt kaum Erweiterungen der Radwege – noch nicht mal einen Radverkehrsplan. Baumaßnahmen für Fußgänger können nicht umgesetzt werden, weil die von den Grünen geführte Senatsverwaltung nicht in der Lage ist, die „Ausführungsvorschriften Geh- und Radwege“ zu liefern. Das für den Bezirk wichtige Straßenbahnprojekt Turmstraße – Jungfernheide befindet sich nur im Stadium der Vorplanungen. Damit die steigende Zahl der Pendler in die City West vom Pkw umsteigen, müsste die Parkraumbewirtschaftung erweitert werden. Diese besonders klimawirksame Maßnahme, für die der Bezirk die alleinige Verantwortung trägt, wurde überhaupt nicht von den zuständigen Stadträten angegangen. Die SPD-Fraktion hat jetzt Vorschläge für ein gutes Vorgehen gemacht. Es bleibt leider eine verlorene Zeit für den Klimaschutz!

Dr. Jürgen Murach

CDU-Fraktion

Aus Sicht der CDU-Fraktion ist die sog. „Mobilitätswende“ nichts, das seitens der Politik oder der Verwaltung erzwungen oder den Bürgerinnen und Bürgern aufoktroyiert werden sollte. Die Verkehrspolitik in Berlin und in unserem Bezirk muss sich an den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen orientieren, nicht diese Bedürfnisse aus ideologischen Gründen lenken.

Außer Zweifel steht, dass sich das Mobilitätsverhalten der Menschen auch in unserem Bezirk in den letzten Jahren verändert hat; deutlich mehr Menschen nutzen bspw. das Fahrrad als Fortbewegungsmittel. Diesem Umstand muss verkehrspolitisch selbstverständlich Rechnung getragen werden. Im Vordergrund muss dabei aus unserer Sicht immer das möglichst konflikt- und gefahrarme Miteinander der verschiedenen Verkehrsteilnehmer stehen. Dies wiederum erfordert ein bezirksweites Gesamtkonzept, um die Verkehrsströme von Rad- und Autofahrern wo es geht voneinander zu trennen, ohne dabei die einen oder die anderen zu benachteiligen. So sollten bisherige Auto- nur dort in reine Fahrradspuren umgewandelt werden, wo sichergestellt ist, dass der Autoverkehr über parallele Strecken geführt werden kann. Ein solches Gesamtkonzept des Bezirksamts existiert bisher leider nicht.

Christoph Brzezinski

B‘90/Grünen-Fraktion

Die vom grünen Stadtrat Oliver Schruoffeneger geführte Abteilung hat viele Projekte angestoßen, die die Mobilitätswende weiterführen. Im Klausenerplatz-Kiez werden Fahrradboxen am Fahrbahnrand aufgestellt, um Räder von Regen geschützt abzustellen. Für das Fahrradparkhaus am S-Bahnhof Charlottenburg ist ein Bebauungsplanverfahren gestartet worden. Es können mehr Lastenräder ausgeliehen werden. Die ersten drei Mobilitätshubs wurden eingerichtet. Dort können an U-Bahnhaltestellen Autos, Räder und Roller ausgeliehen werden. Auf der Zillestraße und am Mierendorffplatz sind Spielstraßen geplant. Die Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße soll verlängert werden. Die Ausweitung der Parkraumbewirtschaftung wird vorbereitet. An 60 Schulen wird der Weg für die Schüler*innen verbessert. Mit Logistikhubs u. a. in der Max-Dohrn-Straße und Masurenallee wird der Lieferverkehr von Lkw auf Lastenräder verlagert. So werden die Straßen sicherer, leiser und die Abgase reduziert. Der Pop-up-Radweg auf der Kantstraße findet bei Radfahrenden großen Zuspruch. Nach jahrelanger Diskussion wurde hier endlich gehandelt.

Das ist der Anfang, wir fordern, die Mobilitätswende personell und finanziell im nächsten Doppelhaushalt abzusichern, denn wir wollen mehr.

Ansgar Gusy und Alexander Kaas Elias

FDP-Fraktion

Es gab kaum einen anderen Bereich, der in den letzten Jahren so emotional diskutiert wurde wie die Mobilität. Mittlerweile finden wir viel Aggression auf unseren Straßen – angeheizt von der Regierungskoalition, die den „Kampf um die Aufteilung der Straße“ ausgerufen hat und mit Parolen von der „menschengerechten Stadt“ Stimmung gegen das Auto macht. Konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur blieben dagegen hinter jeder Erwartung zurück. ÖPNV und Fußverkehr werden kaum beachtet und gegenüber dem Radverkehr zurückgesetzt. Pop-up-Radwege ohne Bürgerbeteiligung, zulasten anderer Verkehrsteilnehmer sind der neue Maßstab. Pläne für Radwege durch Parks und Einkaufsstraßen gefährden Fußgänger. Der öffentliche Nahverkehr wurde komplett ignoriert: kein Ausbau der U1 in Richtung Adenauerplatz vorangebracht, die Straßenbahntrasse aus Moabit verzögert sich massiv, kaum neue Busspuren wurden geschaffen. Mobilität bedeutet Beweglichkeit. Als Freie Demokraten setzen wir daher sowohl bei der Auswahl des Fortbewegungsmittels als auch beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur auf pragmatische, unideologische Lösungen, die die Daseinsberechtigung jedes Verkehrsmittels anerkennen und die Fortbewegung der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt rücken.

Felix Recke

AfD-Fraktion

Um Fortschritt messen zu können, benötigt man ein Ziel. Das zum Mobilitätsgesetz umetikettierte Radgesetz ist zwar eine Mogelpackung, aber gleichzeitig proklamiertes Ziel. Die Zutaten des Mobility*2.0-Mix: gutes altes Zufußgehen, Fahrradfahren, Scootern, (zwangsfinanzierter) ÖPNV und überhaupt alles, was bewegen kann – nur das Auto soll weg! Die Maßnahmen: Umverteilen des Raums durch Fußgänger- und Begegnungszonen, „Stadtplätze“, Spiel- und Fahrradstraßen, „Pop-ups“, Protected-Lanes und mehr Vernetzung mit ÖPNV. Autofahrer haben das Nachsehen: Parkplatzmangel, Stau, Baustellenchaos, Tempo 60/30/10 – d.h. Behinderung bei ständig höheren Kosten. All das führt nicht zu verbesserter Mobilität im Sinne von individueller Freiheit.

Konkret für den Bezirk gilt:

1. Man probiert aus: z. B. Pop-up Fahrradwege in der Kantstraße, verlängerte Fußgängerzone Wilmersdorfer Straße, Sharingmodell Mierendorffkiez und Jakob-Kaiser-Platz, Prinzregenten-Fahrradstraße.

2. Ist man vom Senat oder Bund abhängig, läuft es langsamer: Autobahn-Dreieck Funkturm, Wissell-Brücke, ÖPNV-Anbindung, Rad-Schnell- und Nebenrouten.

3. Der Autofahrer wird rücksichtslos drangsaliert.

Ob all dies nachhaltig ist, wird sich bei stetig wachsendem Verkehrsaufkommen schnell herausstellen.

Jan von Ertzdorff-Kupffer

Linksfraktion

Während die Coronakrise in manchen Bezirken erhebliche Verbesserungen für den Rad- und Fußverkehr mit sich brachte, passierte in unserem Bezirk trotz Grüner Verkehrsverwaltung fast nichts. Zwei Stellen für die Radverkehrsplanung waren im Bezirksamt lange Zeit unbesetzt und so wurden Senatsmittel in Millionenhöhe für Neubau und Unterhalt von Radwegen nicht abgerufen. Hinzu kommen Initiativen der konservativen und rechten Kräfte in der BVV, die die Interessen der momentan stark benachteiligten Fußgänger*innen und Radfahrer*innen ignorieren und auch das Mobilitätsgesetz nicht anerkennen. Viele Anwohner:innen haben keine Geduld mehr und nehmen deshalb die Verkehrswende selbst in die Hand. Sie kämpfen seit Jahren für die dauerhafte Einrichtung eines Stadtplatzes an der Kreuzung Horstweg/Wundtstraße und wünschen sich im Karl-August-Kiez eine Verkehrsberuhigung nach dem in Barcelona erprobten Konzept der „Superblocks“. Im Zuge der Klimakrise wird die Verkehrswende ein bestimmendes Thema im anstehenden Wahlkampf. Es ist an der Zeit, die Verantwortlichen für den Stillstand zur Rechenschaft zu ziehen und für eine menschen- und klimagerechte Mobilität einzutreten!

Sebastian Dieke

TitelbildTitelbild

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