Erschienen in Gazette Schöneberg & Friedenau April 2020
„Wie können wir Friedenau lebenswert erhalten und die Zukunft gemeinsam gestalten?“ fragte der erste Friedenauer Bürger*innenrat im August 2019 (siehe Gazette 9/19) und stellte das daraus erarbeitete Konzept für Friedenau beim Bürgercafé öffentlich vor.
Doch wie sieht es heute, ein halbes Jahr später aus, welche Ergebnisse und Erkenntnisse gibt es, wo besteht beim überparteilichen Modell Verbesserungsbedarf, und wie beurteilen die per Losverfahren aus dem Melderegister für den ersten Teilbezirk-Bürger*innenrat ausgewählten Friedenauer Menschen das Projekt?
Antwort darauf gab ein Informationsabend Ende Februar 2020 im Friedenauer Stadteilbüro der Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci mit Uta Claus (Journalistin) und Katharina Hübl (Psychologin), zwei der Initiatorinnen des in Friedenau an den Start gegangenen Bürgerbeteiligungsmodells von „NUR MUT“. Die fünfköpfige Frauen-Gruppen hat sich zum Ziel gesetzt, über umfassende Bürgerinformation eine aktivere Bürgerbeteiligung an der Politik zu erreichen und um sich greifender Demokratiemüdigkeit entgegenzuwirken, ohne sich dabei von der Politik vereinnahmen zu lassen.
Mit ihrem mit 150.000 Euro vom Land Berlin geförderten Modell des Bürger*innenrates – einem Beteiligungsverfahren, das aus dem österreichischen Vorarlberg stammt – konnten die Frauen die Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg Angelika Schöttler überzeugen, so dass sie nun zur Unterstützung eine Stabsstelle für Dialog und Beteiligung im Bezirksamt eingerichtet hat.
Der Bezirksbürgermeisterin ist es wichtig, dass im Modellprojekt die sieben Teilbezirke von Tempelhof-Schöneberg mit ihren jeweiligen Bürger*innenräten die spezifischen Charakteristika ihres Bezirksteils themenbezogen herausstellen, zu denen sie dann ihre im Rat erarbeiteten Vorschläge an Politik und Resonanzgruppe weitergeben.
Angelika Schöttler bedauerte, dass sie an dem Informationsabend in Friedenau nicht habe teilnehmen können, da zeitgleich der Bürger*innenrat von Mariendorf tagte, den sie begleitete.
Wie angetan die Bezirksbürgermeisterin von dem Modellprojekt ist, verrät jedes Wort von ihr zum Thema. So hebt sie die große Bedeutung dieses ersten Rates in Friedenau hervor: „Ich bin begeistert, wie gut mit den Friedenauern ins Gespräch gekommen und dieser erste Bürger*innenrat angenommen wurde. Er hat als Impulsgeber wichtige Denkanstöße und Inhalte geliefert. In dieser Form wollen wir weitermachen, dabei aber das ein oder andere verändern, wie es ein Modellprojekt mit sich bringt.“
Dilek Kalayci, die gastfreundlich zum Informationsabend geladen hatte und persönlich teilnahm, zeigt ebenfalls großes Interesse für das Modell und lobt das Engagement von Initiatoren und dynamischem Bürger*innenrat – hin zu einer verantwortungsbewussten Gesellschaft im Sinne der Demokratie.
Im August vergangenen Jahres hatte der erste Bürger*innenrat mit zwei Gruppen á 15 Personen für Friedenau seine zehn umfangreichen Haupthemen erarbeitet:
Nachdem die Themen im Bürgercafé vorgestellt und ergänzt worden waren, erfolgte die Weitergabe an die Resonanzgruppe, in welcher Verwaltung und Pollitik zur Zeit die Umsetzbarkeit dieser Empfehlungen prüfen.
Erst danach, wenn Ergebnisse zu diesen Themen vorliegen, soll ein zweiter Bürger*innenrat nach gleichem Prinzip, aber mit neuen Personen gewählt werden, um weitere Themen, die den Friedenauern unter den Nägeln brennen, zur Sprache zu bringen.
Einige Veränderungen in der Verwaltung als Reaktion auf den ersten Bürger*innenrat teilte die Bezirksbürgermeisterin in einem Flyer bereits mit:
Zukünftig organisiert die neugegründete Stabsstelle für Dialog und Beteiligung im Bezirksamt die Bürger*innenräte und stellt über einen auf mein.berlin angebotenen Newsletter Informationen zum entsprechenden Ortsteil ein. Außerdem sollen die Bezirks-Bibliotheken ein erweitertes und aktualisiertes Angebot mit zusätzlichen Veranstaltungen erhalten, um an Attraktivität zu gewinnen.
Mehr Geld für Personal wurde im Bezirkshaushalt beschlossen, um über zusätzliche Stellen die schnellere Bearbeitung von Anliegen zu gewährleisten.
Empfehlungen des Bürger*innenrates sowie vollständige Rückmeldungen dazu aus der Resonanzgruppe werden auf der Webseite unter www.berlin.de/ba-ts/buerger-innenrat dokumentiert.
Für die Bürger*innenräte wird derzeit eine Broschüre erarbeitet, und die Resonanzgruppe arbeitet die Vorschläge thematisch Stück für Stück durch.
„Das erfordert deutlich mehr Zeitaufwand und Kapazitäten als wir dachten“, verrät die Bezirksbürgermeisterin und kündigt gleichzeitig an, demnächst über die Ergebnisse zuerst die Friedenauer zu informieren.
Am Informationsabend wurde dann auch den Anwesenden schnell klar, dass sich das Modellprojekt zwar auf gutem Weg befindet, jedoch aufgrund seiner Vielschichtigkeit eines hohen Zeitaufwandes bedarf. Mit-Initiatorin Katharina Hübl machte deutlich, dass der gesamte Prozess, die Verwaltung, Politik und Bürger im Gespräch auf Augenhöhe zu bringen, eben seine Zeit brauche: Kooperation statt Konfrontation in die Köpfe zu bringen, gehe nicht von heute auf morgen.
Fragen und Überlegungen zur Projektweiterführung gab es von den Gästen in der anschließenden Diskussionsrunde reichlich:
Wie kann man diejenigen der Zufallsausgewählten des Rates erreichen, die keinerlei Rückmeldung kommuniziert haben? Sollte man ihnen Ergebnisse dennoch zusenden und sie darüber einzubeziehen und zu motivieren suchen?
Wie kann man Projekt-Ergebnisse und -Informationen möglichst weit in die Öffentlichkeit und in alle Richtungen streuen, ohne ausschließlich über das Internet zu gehen? – Einig war man sich, dass hier deutlicher Verbesserungsbedarf besteht.
Dazu beitragen dürften Informationsveranstaltungen in enger Folge sowie der von „NUR MUT“ gegründete „Freundeskreis der Bürger*innenräte Friedenau“, in dem ehemalige Bürgerrats-Beteiligte und Interessierte kommunikativ zusammenkommen.
Kritikern, die sich als bezirkserfahrene Initiative bei der Mitglieder-Auswahl zum Rat übergangen fühlten, begegneten die Frauen von „NUR MUT“ konsequent: „Gerade Organisationen und Initiativen mit ihren Experten wählen wir gezielt nicht aus, sondern losen von unten aus der Bevölkerung Menschen nach Zufallsprinzip aus, um ihnen zu zeigen, wie wichtig auch sie mit ihren Erkenntnissen für die Demokratie sind. Denn auch diese Bürger haben etwas zu sagen.“
Informativen Einblick in ihre Arbeit und die daraus gewonnenen Erkenntnisse gab Margot P., ehemaliges Zufalls-Mitglied des ersten Friedenauer Bürger*innenrates:
„Ich habe die Möglichkeit gesehen, nochmal aktiv teilnehmen zu können“, begründet sie ihre Zusage zum Rat.
Dann hob sie besonders die im zweitägigen Workshop unter der Moderation von Fachleuten erreichte Komprimierung vorgeschlagener Themen hervor. Keiner der Themenvorschläge sei langwierig diskutiert worden, sondern nur bei einstimmiger Annahme durch die Gruppenmitglieder des Bürger*innenrates auf die zukünftige Hauptthemen-Liste gesetzt worden. „Durch das Bürgercafé wurde dieses Extrakt noch weiter verdichtet, so dass die Politiker nicht mehr daran vorbeikommen können“, lobt Margot. Auch habe das Zuhören und Akzeptieren anderer Meinungen durch die Ratsarbeit einen ganz neuen Stellenwert bekommen, den sie nicht mehr missen wolle. „Schade nur, dass die Auswahl der Ratsmitglieder ausschließlich „einseitig bürgerlich“ zwischen 16 und 70 Jahren war“, bedauert Margot, die sich auch einige Migranten als Ratskollegen gewünscht hätte. – Ein Punkt, der zukünftig Berücksichtigung finden soll, indem sich die Initiatoren die Frage stellen: Wie kommen wir mit dem Bürger*innenrat stärker in andere Bevölkerungsgruppen hinein, wie schaffen wir Diversität?
Dass das Modellprojekt auf gutem Weg ist, daran zweifelte an diesem Abend kaum jemand. Einig war man sich auch darin, dass das bisher Erreichte im konstruktiven Austausch mit der Verwaltung in der Kommunalpolitik einen wichtigen Schritt vorwärts bedeutet.
Mit den nun folgenden Bürger*innenräten aller sieben Bezirksteile dürfte sich dieses spannende Modell weiterentwickeln, hin zu selbstverständlicher Bürgerbeteiligung und Beseitigung von Politikverdrossenheit.
Eine Gefahr dürfe dabei aber nicht aus den Augen verloren werden, betont Uta Claus:
„Bei Themen, die von der Politik nicht weiterverfolgt werden, muss nachgehakt werden. Es wäre fatal, würde die Kommunikation nach außen untergehen und nichts von den Vorschlägen des Bürger*innenrates von der Verwaltung umgesetzt werden.“ Damit nämlich würden der Politikverdrossenheit Tür und Tor geöffnet.
Um dem vorzubeugen, steht auf der Agenda der Initiatorinnen von „NUR MUT“ ganz oben, die noch ausstehenden Gespräche mit Bezirksverordnetenversammlung und einzelnen Fraktionen dringend nachzuholen.
Bezirksbürgermeisterin Angelika Schöttler bringt es auf den Punkt: „Unsere größte Herausforderung ist: Wie kommunizieren wir miteinander und wie erreichen wir alle?“
- Die Antwort darauf dürften alle am Prozess hochmotiviert Beteiligten gemeinsam finden.
Weitere Infos unter facebook.com/buergerraetefriedenau und www.nur-mut.org
Jacqueline Lorenz
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