Gazette Verbrauchermagazin

Mit Weinglas und Pille in die Abhängigkeit

Beratungsstelle bietet Suchtprävention für Senioren

Erschienen in Gazette Schöneberg & Friedenau November 2023
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Mit ihrem neuen Seniorentelefon und der wöchentlichen Telefonsprechstunde jeden Donnerstag von 11 – 13 Uhr unter Telefon 030 233 240 261 hat die für Tempelhof-Schöneberg zuständige Alkohol- und Medikamentenberatungsstelle nun ihr niedrigschwelliges kostenfreies Angebot für ältere Menschen neben den bereits seit 11 Jahren bestehenden Sprechstunden für alle Altersgruppen in der Beratungsstelle vor Ort erweitert. Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland allein rund 1,4 Millionen medikamentenabhängige Menschen, deren Zahl mit steigendem Alter besonders bei Frauen zunimmt. Und auch der Alkoholkonsum im Seniorenalter – verstärkt Männer betreffend – ist ein Thema. Geschätzt bundesweit bis zu 400.000 ältere Menschen, die von einem Alkoholproblem betroffen sind, müssen ernst genommen werden. Laut Studie schätzen Pflegekräfte, dass derzeit ca. 14 Prozent der Betreuten Alkohol- oder Medikamentenprobleme haben. Gerade für ältere und häufig einsame Menschen birgt der regelmäßige Griff zur Pille gegen Schlaflosigkeit und Unruhe oder das Glas Wein zur Stimmungsaufhellung ungeahnte Risiken: Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten und die veränderte Reaktion des älteren Körpers auf Alkohol können da schnell lebensbedrohliche Folgen haben. Darüber die Senioren – auf Wunsch anonym – zu informieren und ihnen auch in ihrem Alter noch erfolgversprechende Wege aus einer beginnenden oder bereits bestehenden Abhängigkeit ohne Bevormundung aufzuzeigen, hat sich die vom Bezirksamt intensiv unterstützte offene Alkohol- und Medikamentenberatungsstelle des Bezirks unter der Trägerschaft des Notdienst für Suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin e. V. zur Aufgabe gemacht. Willkommen sind ebenso besorgte An- und Zugehörige sowie Fachkräfte aus dem Bezirk.

Für den Erhalt von Selbstständigkeit und Lebensqualität im Alter

öffnet die Beratungsstelle mit ihrer Suchtprävention ihre Türen und hilft mit ihrem neuen Telefonprojekt die Schamschwelle bei den Senioren zu überwinden: Ist es anfangs doch leichter, am Telefon seine Probleme mit Alkohol, Medikamenten oder illegalisierten Substanzen ganz anonym zu schildern, als persönlich vor Ort zu erscheinen. Doch manch Betroffener macht sich nach erstem vertrauensbildenden Telefonkontakt dann doch mit oder ohne Begleitung auf den Weg zum Gespräch in die Beratungsstelle, die mit ihren fünf hellen und freundlichen Büros und einem Gruppenraum verkehrsgünstig und gut erreichbar gelegen am Tempelhofer Damm 129 Hoffnung und Mut auf Lösung einer oftmals erst im Alter auftretenden Suchtproblematik macht. Ein Team aus qualifizierten Sozial- und Suchttherapeuten bietet an diesem Ort der Zuversicht für alle Altersgruppen und gerade auch den Älteren offene Beratung, Vermittlung und begleitende Gruppenangebote wie Ohr-Akupunktur und Schulungsseminare für Angehörige. Im persönlichen Austausch werden Informationen zum Konsum von Medikamenten, Alkohol oder auch Rauchen im Zusammenhang mit Veränderungen im Alter vermittelt. Wenn es den Wunsch nach Veränderung gibt, kann der Konsum gemeinsam reflektiert werden. Bei Bedarf werden Senioren auch in mehreren Gesprächen begleitet und zusätzliche Unterstützungsangebote vermittelt. Andrea Mühling, Sozialarbeiterin und Suchtherapeutin, leitet mit viel Empathie die offene Sucht-Beratungsstelle in Tempelhof. Sie betont: „Wir möchten, dass viele Menschen den Mut finden, sich in unserer Anlaufstelle beraten zu lassen. Sie können dann selbst abwägen, was für sie zu tun ist. Unser Angebot ist freiwillig, ganz ohne Zwang.“ Ein breites bezirkliches Netzwerk zu Praxen und Krankenhäusern mit Entgiftungsstationen wie im August-Viktoria-Klinikum und Wenckebach-Krankenhaus pflegt die Beratungsstelle ebenso wie zu Krankenkassen, Pflege- und Senioreneinrichtungen, Freizeitstätten, Pflegestützpunkte und Kirchengemeinden. Dort setzt sie mit ihren präventiven Informationsveranstaltungen und Schulungen an und zählt auf Multiplikatoren wie Pflegekräfte, pflegende Angehörige und Ehrenamtliche, die das erworbene Wissen zum Thema Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit mit bestehenden Hilfsoptionen an Betroffene weitertragen.

Thomas Luthmann, Pressesprecher des Notdienst für Suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin e. V. erklärt: „Die Nutzer unseres kostenlosen Beratungs-Angebots sind zu zwei Dritteln Männer und zu einem Drittel Frauen.“

Prävention statt Repression

Ein Gläschen am Abend, was soll da schon passieren? Doch was, wenn das zur Regelmäßigkeit wird, ohne die es irgendwann nicht mehr geht, wenn aus einem etliche Gläser mehr werden? Und wenn an Schlaf und Ausgeglichenheit ohne die tägliche Pille(n) nicht mehr zu denken ist? – Dann ist es höchste Zeit, zu handeln, denn der Weg in die Abhängigkeit ist kurz: Der ältere Organismus baut Alkohol längst nicht mehr so schnell ab wie der jüngere und verwertet ihn ganz anders, dazu kommen Wechselwirkungen mit vom Arzt verschriebenen Medikamenten und fatale Nebenwirkungen des Gläschens gegen die Einsamkeit oder der Pille gegen die Traurigkeit: Desinteresse, Gangunsicherheit und Schwindel bis hin zum Sturz sind nicht selten, führen schmerzlich zum Verlust von Selbstständigkeit und zur Unterdrückung der Handlungsfähigkeit des Seniors. Gegen früher oder später auftretende Entzugserscheinungen werden dann immer wieder andere Medikamente ohne Rücksprache mit dem Arzt eingenommen, ein Teufelskreis. Ein dann eigenständig unternommener, medizinisch unbegleiteter Entzugsversuch kann zusätzlich fatale lebensbedrohliche Folgen haben.

Oft wird die eher „stille Abhängigkeit“ früher von Kontaktpersonen als vom Betroffenen selbst wahrgenommen. Da wundern sich ehrenamtliche Spaziergeh-Paten über die plötzlich so desinteressierte und antriebslose ältere Dame, die ihnen sonst Löcher in den Bauch fragte. Oder da sind Nachbarn über den sonst eher wortkargen älteren Herrn erstaunt, der kaum grüßte, jetzt aber – leicht schwankend – gleich ein Witzchen im Treppenhaus erzählt und selbst am lautesten darüber lacht. – Auch diesen Beiden kann geholfen werden durch die schnelle Reaktion ihrer Mitmenschen: mit einem Anruf, einem Besuch in der Beratungsstelle, die zuerst berät, dann auf Wunsch auch weitervermittelt. Entgiftungsprogramme übernehmen die Krankenkassen übrigens auch noch für Senioren in fortgeschrittenem Alter. Andrea Mühling weiß aus Erfahrung: „Die älteren Menschen ziehen Behandlungen und Entgiftungsprogramme meist sehr konsequent durch, 60 Prozent sind bereits beim ersten Mal erfolgreich.“ – Diese Erfolge sind es, die der Leiterin der Anlaufstelle und ihrem Team ihre Arbeit honorieren und ihr tiefen Sinn geben. „Zu unseren jährlichen Festen begrüßen wir auch viele ältere dankbare Menschen, denen geholfen werden konnte“, erzählt sie nicht ohne Stolz an diesem unverzichtbaren Ort der Hoffnung und Zuversicht in Tempelhof.

Ähnliche Suchtberatungs- und Anlaufstellen unterhalten alle Berliner Bezirke.

Jacqueline Lorenz

Suchtberatungsstelle

Alkohol- und Medikamentenberatungsstelle Tempelhof-Schöneberg

Tempelhofer Damm 129
12099 Berlin

Telefon: (030) 233 24 02 60
E-Mail: amb@notdienstberlin.de

www.drogennotdienst.de/

 

Integrative Suchtberatung „Königsberger“ Steglitz-Zehlendorf

Königsberger Straße 11
12207 Berlin-Lichterfelde

Telefon: (030) 666 33 90

E-Mail: sucht-koenigsberger@caritas-berlin.de

 

Suchtberatung Charlottenburg-Wilmersdorf

Hohenzollerndamm 174-177
10713 Berlin-Wilmersdorf

Telefon: (030) 9029 16044

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