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Im Zweifel gegen den Fahrer?

Wie der Anscheinsbeweis funktioniert

03.09.2025: Ob Auffahrunfall, riskanter Spurwechsel oder ein Missgeschick beim Rückwärtsfahren – in manchen Fällen muss das Gericht nicht jede Sekunde des Geschehens rekonstruieren, um zu einer Einschätzung über den Unfallverursacher zu kommen. Hier greift der sogenannte Anscheinsbeweis: Aus typischen Abläufen im Straßenverkehr wird auf ein wahrscheinliches Fehlverhalten geschlossen – etwa, dass bei einem Auffahrunfall typischerweise der Auffahrende als Verursacher vermutet wird. „Für den vom Anscheinsbeweis Betroffenen bedeutet das: Die Beweislast dreht sich um und er muss zeigen, dass es diesmal anders war“, erklärt Melanie Leier, Anwältin für Verkehrsrecht und Partneranwältin von Geblitzt.de.

Erleichterte Beweisführung

In einigen Situationen zeigen allgemeine Erfahrungswerte und Statistiken, dass bestimmte Unfälle und Fahrfehler regelmäßig mit bestimmten Ursachen verbunden sind. „Das Gericht darf in solchen Fällen zunächst auf ein typisches Fehlverhalten und die daraus resultierende Unfallverursachung schließen – ohne dass jeder einzelne Umstand des Ereignisses konkret nachgewiesen werden muss. Dieser Anscheinsbeweis dient dazu, die Beweisführung bei häufigen Geschehensabläufen zu erleichtern“, erläutert Melanie Leier.

Typische Fahrfehler

Besonders oft wird der Anscheinsbeweis bei häufig vorkommenden Unfallkonstellationen angenommen, etwa bei Auffahrunfällen, riskanten Spurwechseln, Überholvorgängen oder Kollisionen beim Rückwärtsfahren. „Bei einem Auffahrunfall wird meist vermutet, dass der Auffahrende den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat oder unaufmerksam gefahren ist. Beim Spurwechsel unterstellt man häufig, dass der Verkehr auf der Zielspur nicht ausreichend von dem Spurwechselnden beachtet wurde. Und beim Rückwärtsfahren wird in der Regel angenommen, dass der Fahrer seiner besonderen Sorgfaltspflicht, die dem Rückwärtsfahrenden regelmäßig auferlegt wird, nicht nachgekommen ist“, so die Anwältin für Verkehrsrecht.

Annahmen widerlegen

Der Anscheinsbeweis dient als Beweiserleichterung, ist aber keine endgültige Feststellung und kann durch konkrete Gegenbeweise widerlegt werden. „Derjenige, der vom Anscheinsbeweis betroffen ist, kann diesen entkräften, wenn er konkrete Tatsachen vorträgt und belegt, aus denen sich ergibt, dass sich der Unfall nicht in der typischen Weise ereignet hat“, betont Melanie Leier und erklärt: „Das kann zum Beispiel ein plötzlicher, völlig unvorhersehbarer Fahrfehler des anderen Verkehrsteilnehmers, ein unvermeidbares Ausweichmanöver oder ein technischer Defekt sein. Entscheidend ist, dass diese Umstände geeignet sind, den typischen Geschehensablauf zu erschüttern und damit die gesetzte Vermutung zu widerlegen.“

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